Rubén Zárate im Gespräch: Haltung, Herkunft und die Kunst echter Begegnung
Hill: Rubén, du hast auf LinkedIn viele Menschen mit deinen Beiträgen berührt. Aber fangen wir ganz vorne an: Wo beginnt eigentlich deine Geschichte?
Zárate: Ich bin 58 Jahre alt – wobei ich es kaum merke. Ich fühle mich deutlich jünger, warum auch immer. Vielleicht, weil ich noch immer neugierig bin und in Bewegung bleibe.
Ich wurde in Lima, Peru geboren, aber meine Kindheit habe ich im Hochland verbracht, in einem kleinen Andendorf namens Pachacayo – auf 3.800 Metern Höhe. Das Leben dort war einfach, aber intensiv: klare Luft, weite Stille, Alpakas, Schafe, Armut – und starke Bindungen.

Mein Vater nahm 1975 an einem zweijährigen Managementkurs teil – deshalb kamen wir als Familie nach Deutschland und in die Schweiz. In dieser Zeit lebten wir in verschiedenen Städten: Saarbrücken, Düsseldorf, Zürich, Solothurn und Derendingen. Ich war acht Jahre alt. Danach kehrten wir nach Lima zurück, wo ich die Deutsche Schule besuchte. Mit 23 kam ich allein zum Studium nach Deutschland – und bin geblieben.
Ich habe mich seither – oder besser: mein ganzes Leben – zwischen Welten bewegt: geografisch, sprachlich, kulturell. Diese Zwischenräume prägen mich bis heute.
Als peruanischer Staatsbürger war mein Leben in Deutschland lange Zeit geprägt von Unsicherheit. Es war sehr schwer, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, Dokumente zu klären, Rechte einzufordern. Ein Leben mit Angst und Ohnmacht – weil andere über dein Leben entscheiden. Im Jahr 2007 habe ich schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Dafür musste ich meinen peruanischen Pass abgeben. Ein schmerzlicher, aber bewusster Schritt.
Hill: Wie waren die ersten Jahre in Deutschland?
Zárate: Herausfordernd. Ich war neugierig, aber auch verunsichert. Die Sprache war mir fremd, die Codes unausgesprochen. Ich musste viel beobachten, zuhören, mich einfinden. Aber ich habe auch früh gelernt, wie wertvoll es ist, sich in verschiedenen Welten bewegen zu können. Diese Fähigkeit, mich anzupassen, ohne mich zu verbiegen, hat mir in meinem ganzen Leben geholfen.
Hill: Du hast dann in Deutschland als junger Mann BWL studiert und viele Stationen durchlaufen. Was hat dich dabei geleitet?
Zárate: Ein innerer Drang, weiterzukommen. Nicht im Sinne von Karriere um jeden Preis, sondern im Sinne von: verstehen, mitgestalten – aber auch überleben. Ich war in der Zentrale einer deutschen Bank, später kurz in New York. Danach im Vertrieb bei der FAZ, in Call-Centern, in Beratungsunternehmen wie Willis Towers Watson – und irgendwann auch in der Modebranche mit einer eigenen Marke und selbst entworfenen Designs.Meine Kollektionen wurden sogar im KaDeWe in Berlin, Alsterhaus in Hamburg, Galeries Lafayette sowie bei Loden-Frey und Ludwig Beck in München verkauft – und sogar in Duty-Free-Shops großer Flughäfen geführt. Ich habe nie an das eine perfekte Berufsbild geglaubt. Ich habe an Entwicklung geglaubt.
Hill: Gab es auch Phasen, in denen du gezweifelt hast?
Zárate: Aber hallo – sehr viele sogar. Vor allem in Übergangsphasen. Wenn man nicht weiß, was als Nächstes kommt, fühlt man sich oft klein. Aber ich habe gelernt, dass gerade in diesen Momenten das Wichtigste wächst: Vertrauen in sich selbst. Und eine andere Art von Erfolg – einer, der nicht in Titeln messbar ist, sondern in Haltung. Das Wunderbare war: Ich traf immer wieder Menschen, die an mich glaubten. So konnte ich mich immer wieder aufrichten.
Hill: Mode ist ein ganz anderes Feld. Was hat dich daran gereizt?
Zárate: Stil, Identität, Ausdruck. Kleidung ist mehr als Stoff – sie ist Haltung. Und gerade als jemand, der zwischen Welten lebt, finde ich Kleidung spannend. Ich arbeite aktuell – neben meinem Beruf im sozialen Bereich – an einer neuen Herrenkollektion aus Alpaka, die meine Wurzeln und mein heutiges Leben verbindet. Ich erzähle darin meine Geschichte. Es geht nicht nur um Mode, sondern um die Erzählbarkeit von Herkunft und Eleganz.

Hill: Wie kam es zur Idee mit Alpaka?
Zárate: Das Alpaka ist ein Tier meiner Kindheit im Hochland Perus. Mein Vater war Geschäftsführer einer großen Firma mit rund 2.000 Mitarbeitenden, die Alpaka- und Schafwolle sowie Fleisch produzierte und exportierte. Für mich steht die Wolle des Alpakas für Wärme, Natürlichkeit und zugleich für Luxus. Ich wollte etwas schaffen, das nicht laut ist, aber Charakter hat – wie viele Menschen, die ich bewundere. Diese Kollektion ist kein Massenprodukt, sondern Ausdruck einer Haltung: Weniger, besser – und mit Seele.
Hill: Du arbeitest heute hauptberuflich in der Franziskustreff-Stiftung. Wie kam es dazu?
Zárate: Bruder Paulus, der Vorstand der Franziskustreff-Stiftung, hat mich mitten in der Coronakrise angesprochen. Ich wollte etwas Sinnvolles tun. Heute begleite ich als Wohltäter-Berater Menschen, die helfen möchten – institutionell oder privat – und solche, die Hilfe brauchen. Ich sehe mich als Brückenbauer zwischen zwei Realitäten: denen, die geben können, und denen, die empfangen müssen. Gemeinsam mit einem großartigen Team organisieren wir jeden Morgen ein Frühstück für rund 180 Gäste, bieten soziale Beratung an – und das seit über 32 Jahren. Ohne die Hilfe und das Vertrauen unserer Spenderinnen und Spender wäre all das nicht möglich.
Es ist eine stille, aber tiefgreifende Arbeit. Ich führe Gespräche mit Spender:innen, mit Unternehmen, mit Gästen – und oft auch mit mir selbst. Dabei geht es um mehr als materielle Hilfe. Es geht um Würde, Augenhöhe und Vertrauen.
Hill: Was nimmst du aus diesen Begegnungen mit?
Zárate: Dankbarkeit. Und Demut. Ich habe gelernt: Nicht jeder, der auf der Straße lebt, ist gebrochen. Und nicht jeder im Anzug oder Kostüm hat Klarheit. Ich versuche, diese Geschichten in meinen Alltag zu lassen – auch auf LinkedIn. Dort teile ich keine Erfolgsstorys, sondern stille Heldengeschichten. Die Welt braucht mehr davon.

Hill: Und wenn du nicht arbeitest?
Zárate: Dann lebe ich zurückgezogen – mitten im Wald, in einem alten Bauernhof im Taunus. Ohne Luxus, aber mit Seele. Ich koche und backe gerne, treffe gute Freunde. Ich liebe das Landleben, den Rhythmus der Natur, das Holz, die Tiere. Dieser Ort gibt mir Ruhe und Erdung. Dort tanke ich auf. Dort höre ich zu – mir selbst und der Welt.
Hill: Du organisierst auch private Dinners. Was hat es damit auf sich?
Zárate: Das sind kleine Abende mit besonderen Menschen. Banker, Künstlerinnen, Menschen aus sozialen Projekten, Anwälte, Kreative. Ich lade sie ein – an einen Tisch, in eine ehrliche Atmosphäre. Es gibt gutes Essen, ehrliche Gespräche, keine Titel. Jeder zahlt selbst.
Meine Gäste wissen, wenn ich sie einlade, dass ich es schaffe, Menschen mit Herz und Substanz zusammenzubringen. Für mich ist das gelebte Verbindungskunst. Und oft beginnt Veränderung dort, wo Menschen sich einfach gegenüber sitzen – ohne Agenda.
Hill: Du hast eine gewisse Ruhe in deiner Art. Woher kommt die?
Zárate: Vielleicht aus dem Hochland. Oder aus vielen Gesprächen mit Menschen, die alles verloren haben und trotzdem lächeln. Oder aus dem Wissen, dass nicht ich im Zentrum stehen muss – sondern das, was zwischen uns entsteht. Ich glaube an Stille als Qualität.
Und vielleicht auch, weil ich mit 35 Jahren einen Gehirntumor hatte und operiert wurde. Wenn du das im eigenen Leib erlebst – wie schnell sich alles ändern kann, wie plötzlich du abhängig wirst und ausgeliefert bist – dann verändert das deinen Blick auf das Leben. Ich lebe seither bewusster, intensiver, nachdenklicher. Und vor allem: dankbarer. Vielleicht ist auch deshalb meine Nähe zu Gott gewachsen – nicht durch ständigen Kirchgang, sondern durch stille Gebete. Besonders bei meinen Spaziergängen im Wald. Dort bin ich verbunden – ohne viele Worte, aber mit offenem Herzen.
Aber du darfst nicht vergessen: Ich bin Latino. Und das Temperament – das habe ich definitiv von meiner Mutter geerbt. Wie meine Freunde und Kolleginnen bestätigen können, bleibt es bei mir nicht immer still. Ich kann sehr liebevoll, aber auch direkt und temperamentvoll sein. Das gehört zu mir. Und das will ich auch gar nicht verleugnen. Und ja – leise bin ich nicht immer, aber echt bin ich immer.
Hill: Was bedeutet dir Frankfurt?
Zárate: Viel. Ich bin auch ein Frankfurter. Meine Stadt. Hier habe ich mich oft neu erfinden müssen. Ich habe Aufstieg erlebt, Brücken gebaut, aber auch Einsamkeit erfahren. Frankfurt ist hart, aber ehrlich. Und es gibt Menschen, die wirklich zuhören. Das versuche ich weiterzugeben – ob in Gesprächen, beim Frühstück im Franziskustreff oder abends bei einem Glas Wein mit Freunden.
Hill: Du bist Mitglied im Expertenbeirat des „Fonds auf Augenhöhe“ der Software AG – Stiftung. Was bedeutet dir diese Rolle?
Zárate: Sie ist Ausdruck von Vertrauen. Wir unterstützen Projekte, die Geflüchteten auf Augenhöhe begegnen. Das ist für mich nicht nur Ehrenamt, sondern eine Haltung. Ich bin selbst als Kind in ein neues Land gekommen. Ich weiß, wie still man werden kann, wenn man nicht weiß, ob man dazugehört. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen Menschen nicht nur mitgedacht, sondern mitgemeint werden. Ich bin davon überzeugt: Herkunft verpflichtet. Und das lebe ich.
Hill: Du sprichst oft über Haltung. Was heißt das für dich konkret?
Zárate: Haltung ist, wenn man auch dann aufrecht bleibt, wenn keiner zusieht. Es ist die Summe aus Erfahrung, Werten und Mut. Es bedeutet, nicht alles mitzumachen, was geht – sondern das zu tun, was richtig ist. Ich glaube, dass das gerade im Finanzplatz Frankfurt eine wichtige Rolle spielt. Vielleicht mehr denn je.
Und Haltung zeigt sich auch im Kleinen: Wenn Menschen sagen, sie melden sich – und es nicht tun. Wenn Angebote gemacht werden – und am Ende nichts kommt. Gerade in einer Stadt wie Frankfurt, in der viele mit Expertise handeln und sich glänzend präsentieren, beobachte ich das immer wieder. Für mich ist das bezeichnend: Wer im Kleinen nicht verlässlich ist, wird es auch im Großen schwer haben. Ich sage das nicht vorwurfsvoll – sondern als Einladung, Haltung nicht nur zu denken, sondern zu leben. Alle sprechen heute von Werten. Doch sie müssen auch im Alltag gelebt werden – sonst bleiben sie leere Worte.
Hill: Was wünschst du dir für die Zukunft?
Zárate: Mehr Zwischenräume. Weniger Lautstärke, mehr Zuhören. Und dass Menschen wieder lernen, miteinander zu sein – ohne Agenda. Ich wünsche mir Räume für Resonanz, nicht nur für Reaktion.
Hill: Und für den Finanzplatz Frankfurt?
Zárate: Weniger Maske, mehr Haltung. Und einen Tisch, an dem nicht nur Zahlen, sondern auch Geschichten Platz haben. Ich wünsche mir, dass Menschlichkeit und Sensibilität nicht als Weichheit gelten – sondern als Kompetenz.
Hill: Rubén, vielen Dank für das interessante und offene Gespräch.
Zárate: Danke dir, Markus – wer sagt denn, dass man am Finanzplatz Frankfurt nicht auch über Haltung, Würde, Mode und vielleicht sogar Alpakas sprechen darf? Es war mir ein echtes Vergnügen.
LINK / INFORMATION ZUR FRANKZISKUSTRFF-STIFTUNG
Dialog & Information:
FINANZPLATZ FRANKFURT AM MAIN auf LINKEDIN – KANAL
FINANZPLATZ FRANKFURT AM MAIN auf LINKEDIN – GRUPPE
FONDSBOUTIQUEN auf LINKEDIN – KANAL
Foto: PIXABAY & Markus Hill/Rubén Zárate