FINANZPLATZ FRANKFURT: Paulskirche, Resilienz, Silicon Valley & Langsamkeit (Interview – Ortrud Toker, Autorin)

„Eins, zwei, drei, im Sauseschritt läuft die Zeit; wir laufen mit.“ (Wilhelm Busch). Frankfurt, Innovation, Resilienz und Unternehmertum – Markus Hill sprach für FINANZPLATZ-FRANKFURT-MAIN.DE mit der Autorin Ortrud Toker über Unternehmerpersönlichkeiten, Erfinderfreude und über die geschichtliche Bedeutung von Langsamkeit, Geschwindigkeit und Kommunikation. Themen wie Technologie, Erfindergeist und Preußen werden ebenso angesprochen wie Datenübermittlung, Banking und die Frankfurter Paulskirche.

Hill: Die Frankfurter Rundschau nannte Ihr Buch „Vom Ende der Langsamkeit“ einen Publikumsliebling, HR2 Kultur und Thalia empfehlen Ihr Buch als „Buchtipp“. Vor dem Lockdown hatten Sie viele Lesungen, u.a. in der DenkBar, der Buchhandlung Weltenleser und in der Kulturfabrik in Sachsenhausen.  Wovon handelt Ihr Buch?

Toker: Es geht in „Vom Ende der Langsamkeit“ um drei außergewöhnliche Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Werner von Siemens, Philipp Reis und um das Ehepaar Bertha und Carl Benz. Sie alle waren bei bahnbrechenden Erfindungen maßgeblich beteiligt, nämlich der Telegraphie, dem Telefon und dem Automobil. Diese Erfindungen veränderten die Welt und prägen sie bis heute.

Hill: Aha, es geht um Unternehmerpersönlichkeiten. Was haben sie gemeinsam und worin unterscheiden sie sich? Denn zwei Namen kenne ich, aber Philipp Reis ist mir nicht geläufig.

Toker: Wir haben es mit drei völlig verschiedenen Unternehmercharakteren zu tun. Werner von Siemens ist vermutlich der populärste und wirkungsmächtigste. Ihn zeichnet aus, dass er sein Ziel nie aus den Augen verlor, stets neugierig, offen und vor allem flexibel blieb. Er ließ sich von Rückschlägen und Niederlagen nie dauerhaft entmutigen, sondern sie spornten ihn viel eher zu Hochleistungen an. 1842, schon als junger Artillerieoffizier nutzte er z. B. seine Inhaftierung im Magdeburger Gefängnis zu Experimenten, die zu einer bedeutsamen Entdeckung und seinem ersten Patent führten. Der Beginn einer lebenslang andauernden Karriere, voller Höhen und Tiefen. Der Friedrichsdorfer Lehrer Philipp Reis hingegen war glücklos und fand zeitlebens keine Investoren. Er starb, bevor die Weiterentwicklung seines Telefons einen weltweiten Siegeszug antrat. Und was aus der „Kutsch‘ ohne Gäul‘“ von Carl Benz geworden wären, wenn ihn seine Frau Bertha nicht unermüdlich über Jahrzehnte immer wieder ermutigt und unterstützt hätte, steht in den Sternen.

Ortrud Toker, Autorin
Ortrud Toker, Autorin
Foto: Hartmuth Schröder

Hill: Es geht in Ihrem Buch also auch darum, dass Erfindungsgeist allein noch nicht reicht, um auf Dauer erfolgreich zu sein.

Toker: Unbedingt. Dass die Götter vor den Erfolg den Schweiß gesetzt haben, ist ein Allgemeinplatz. Aber wie genau das aussieht und was das im Einzelnen bedeutet, kann man an diesen drei Lebensläufen sehr schön nachvollziehen. Nicht nur Fleiß und Ausdauer sind von Vorteil, sondern dazu kommen Beharrlichkeit in der Zielerreichung, sowie eine besondere Widerstandskraft. Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, nach Rückschlägen weiterzumachen, wie ein Stehaufmännchen nach vorne zu schauen und aus Fehlern produktiv zu lernen. Wie das gehen kann, zeigen die Beispiele aus meinem Buch. Jede Zeit braucht kluge, unkonventionelle Lösungen, Erneuerer und Visionäre. Unternehmer, die für ihre Ziele brennen, kalkulierte Risiken eingehen und Verantwortung übernehmen. Erst wenn sich zu innovativen Ideen der Mut zur Umsetzung, Offenheit, Augenmaß und ein langer Atem gesellen, kann dies langfristig zum Erfolg führen. Beispiele, wo sich das Durchhalten gelohnt hat, gibt es genug. Die heutigen Superstars heißen Steve Jobs, Elon Musk und Jeff Bezos. Aber natürlich kennen das auch Menschen, die einen kleineren Wirkungskreis haben.

Hill: Alle reden von Geschwindigkeit, warum sprechen Sie in ihrem Buch aber vom Ende der Langsamkeit?

Toker: Bei den Erfindungen der Hauptpersonen in meinem Buch, Siemens, Reis und dem Ehepaar Benz, spielt die Beschleunigung des Transports von Menschen und Nachrichten eine zentrale Rolle. Was Geschwindigkeit jedoch genau ist und welche Bedeutung sie in unserer Gesellschaft hat, wird immer wieder neu definiert. Bertha Benz benötigte 1888 mit dem ersten Automobil einen ganzen Tag für die rund 100 Kilometer von Mannheim nach Pforzheim. Ihr Mann Carl Benz wollte bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h aufhören, Autos zu produzieren.

Heute geht es bei dem neuen Mobilfunkstandard G5 um die Übermittlung von Datengeschwindigkeiten bis zu 10 Gigabit pro Sekunde, das bedeutet Kommunikation in Echtzeit und ermöglicht völlig neue Anwendungen. 100 Milliarden Geräte wären gleichzeitig ansprechbar.

Hill: Schnelle Datenübermittlung war ja auch politisch und militärisch relevant und ist es heute noch. Spielt deswegen auch die Frankfurter Paulskirche in ihrem Buch eine Rolle?

Toker: Die kabelgebundene Telegraphie war 1848/49 während der Revolution eine brandneue Technologie. Der preußische König in Berlin wollte so schnell wie möglich darüber informiert werden, was denn da während der Nationalversammlung in Frankfurt geschieht. Werner von Siemens wurde deswegen mit dem Bau der ersten europäischen Fernleitung von Berlin bis Frankfurt beauftragt. Als am 28. März 1849 die Nationalversammlung beschloss, dem König die Kaiserwürde anzutragen, sauste diese Nachricht in der sensationellen Geschwindigkeit von nur einer Stunde von Frankfurt bis Berlin. Wenn Sie bedenken, wir reden von einem einzigen Draht, einer Kabelverbindung an Masten. So ging es damals los. Heute ist Frankfurt der Standort von Europas größtem Internetknoten.

Hill: Die Finanzwelt ist ebenfalls auf präzise und schnelle Datenübermittlung angewiesen – hat Frankfurt hier historisch gesehen Standortvorteile?

Toker: Gewiss, darum geht es. Mein Buch handelt von den Anfängen der beschleunigten Kommunikation, vom ersten heißen Draht zwischen Berlin und Frankfurt. Vor der Telegraphie gibt es berühmte Vorläufer. Die Bankiersfamilie Rothschild unterhielt Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Dächern ihrer Bankhäuser eigene Schläge für Brieftauben und setzte diese beim Transport der Aktienkurse ein. So überflügelten sie im wahrsten Sinn des Wortes die Konkurrenz.

Hill: Das klingt ganz nach dem Motto „Wissen ist Macht“.

Toker: Ganz richtig. Nathan Mayer Rothschild wusste vor dem britischen Premier, dass Napoleon bei Waterloo geschlagen worden war und nutzte dieses Wissen gewinnbringend für den Aktienhandel. Brieftauben dienten auch Julius Reuter Mitte des 19. Jahrhunderts zur Überbrückung, solange das Telegraphennetz noch nicht lückenlos aufgebaut war, noch vor der Gründung seiner Nachrichtenagentur.

Hill: Vielen Dank für das Gespräch.


Ortrud Toker, geboren 1957, studierte Kunstgeschichte, klassische Archäologie und Philosophie an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt. Sie arbeitete viele Jahre u. a. im Deutschen Filmmuseum und im Museum für Kommunikation in Frankfurt. Ihr Schwerpunkt liegt in der frühen Film- und Mediengeschichte.

Das Buch „Vom Ende der Langsamkeit“ von Ortrud Toker ist im Frankfurter Verlag Henrich Editionen erschienen: www.henrich.de)

Quelle: LinkedIn

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